Im Rahmen dieser Serie unterhalte ich mich mit Protagonisten der Freien Szene darüber, was sie bewegt und antreibt. Den Anfang macht Olaf Reitz. Der Schauspieler, Sprecher und Regisseur ist seit 30 Jahren in der Kunst unterwegs. Er verfolgt einen interdisziplinären Ansatz. Als Inspiration nimmt der den Alltag und die Gefühle, die dieser hervorruft.
Erschienen am 14.08.2025 in der Westdeutschen Zeitung.

Warum machst du, was du machst?
Einerseits, weil es mir Spaß macht. Andererseits, weil ich das relevant und wichtig finde. Es ist eine Ausdrucksform, die für mich gut funktioniert, weil ich damit ins Gespräch und in Kontakt mit Menschen komme und einen Austausch habe.
In deiner Kunst steckt Haltung. Wie bewusst ist Dir der politische Aspekt?
Das ist unterschiedlich. Es gibt in meiner Kunst auch Arbeiten, die zunächst gar nicht politisch sind, die auf gute Unterhaltung zielen, aber auch ein echtes Erlebnis schaffen. Das ist auf der anderen Seite wieder ein politischer Ansatz, weil – wenn wir uns die heutige Zeit angucken vieles in Richtung Digitalisierung, Technisierung und Automatisierung geht. KI ist nur ein Teil davon, und vieles geht in Richtung Entmenschlichung. Wenn man dagegen echte Begegnungen schafft, ist das gleichzeitig wieder ein politischer Ansatz. Und es gibt auch politische Themen, die ich verhandle. Ein Beispiel: Wir sind seit einigen Jahren mit dem Programm „Hermanns Bruder – Wer war Albert Göring?“ auf Lesereise. Das sind kleine Veranstaltungen, die aber einen politischen Background haben, der mir wichtig ist.
Was ist, wenn die Politik Fördermittel kürzt? Fühlst du dich dann im Stich gelassen?
Im Stich gelassen, das finde ich schwierig. Das würde bedeuten, es gäbe Versprechungen, die dann nicht gehalten werden, und man wäre enttäuscht. Ich habe den großen Vorteil, dass ich lange in der freien Szene aktiv bin, und mir ist dort nie etwas versprochen worden. Von daher geht es immer darum, sich Freiräume und Betätigungsfelder zu erarbeiten – das ist, solange ich denken kann, so, und ich glaube, das gehört auch dazu. Diese Auseinandersetzung und das Ringen darum empfinde ich als sehr produktiv, weil man darüber ins Gespräch mit Politikerinnen und Politikern kommt. Ich unterstelle diesen Politikern zunächst keine böswillige Absicht. Die meisten sind bemüht, etwas Gutes zu erreichen, sonst würden sie nicht in die Politik gehen. Oft fehlen jedoch die Mittel, um wirklich handlungsfähig zu werden. Wenn ich auf der anderen Seite sehe, wofür überall Geld ausgegeben wird – und wofür nicht –, dann frage ich mich: Was ist mit euren Prioritäten nicht in Ordnung? Das ist wiederum ein Spiegel der gesamtgesellschaftlichen Entwicklung.
Was entsteht in diesen freien, selbstgeschaffenen Räumen?
In diesen freien Räumen entsteht immer so etwas wie Magie – wenn es gut ist. Und es entsteht echtes Erleben. Beim Theater ist es so, dass man immer etwas behauptet, zum Beispiel, jemand Bestimmtes zu sein. Wenn du eine Rolle annimmst oder eine Geschichte erzählst, ist alles wie in einem Labor. Es gibt eine Grundverabredung, und das weiß auch jeder: Es ist eine ausgedachte Geschichte. Und trotzdem werden die Menschen dadurch berührt und empfinden echte Gefühle.Ein Beispiel: „Die Türme“. Wir haben zehn Jahre lang eine Turmreihe in Wuppertal und im Bergischen Land gemacht. Ich habe mich mit Kirchtürmen „unterhalten“, sie haben eine Stimme bekommen. Die Menschen sitzen da, schauen zu dem Turm hoch, in dem eine Lautsprecherbox eingebaut ist. Wir haben die Texte vorher aufgezeichnet. Ich beziehe die Physis des Turms mit ein – Backstein klingt anders als Sandstein –, um dem Turm wirklich eine Stimme zu geben und die Illusion perfekt zu machen. Die Leute sehen in diesem Turm eine Person und folgen diesem Dialog. Alle wissen, dass es nicht möglich ist, aber sie sind dabei und gefangen von dieser Begegnung.
Wie erreicht Kunst Menschen, die sich selbst nicht als Publikum dafür sehen?
Oft begegnet mir der Satz „Von Kunst habe ich gar keine Ahnung“. Man muss nicht studiert haben, um in ein Theaterstück zu gehen. Man muss nicht studiert sein, um zu einer Lesung zu gehen. Die Assoziationsebenen sind bei jedem Menschen anders. Bei jedem spricht man etwas anderes an, und deswegen muss gute Kunst auf mehreren Ebenen funktionieren. Besonders erlebe ich das bei Veranstaltungen, die barrierearm sind, bei denen Leute zufällig vorbeikommen, stehen bleiben und sich davon einfangen lassen.
Das ist höchst demokratisch, gerade in einer Zeit, in der viele besorgt über den aufkommenden Rechtsruck in dieser Gesellschaft sind. Was kann Kunst dagegen tun?
Ich glaube, Kunst kann zunächst einmal versuchen, einfach da zu sein. So stellt man etwas in den Raum – eine Meinung, eine Haltung, irgendetwas –, womit man sich auseinandersetzen kann. Der große Vorteil liegt darin, dass dies zunächst nicht hinterfragt wird, sondern dass man einfach mit einer Situation, einer Geschichte oder was auch immer konfrontiert ist. Und ich glaube, es ist in unser aller Leben wichtig, mit etwas konfrontiert zu werden, damit man sich darüber Gedanken machen kann. Bestenfalls ist diese Kunst vielfältig, stellt verschiedene Themen in den Raum. Wenn durch diese Vielfalt gesellschaftliche Diskurse entstehen, wenn dadurch Auseinandersetzungen stattfinden und das Publikum darüber diskutiert, ist das wunderbar – das ist ein Zeichen gelebter Demokratie.
Und wenn dieser Bereich wegfällt? Sind wir schon mitten im Kahlschlag?
Ich glaube, wir müssen unterscheiden: Einerseits bedeutet der Wegfall von Kunstförderung, dass eine Kulturszene extrem verarmt. Ich glaube nicht, dass Kunst an sich verschwinden wird. Die wird es, vermute ich, immer geben. Ich kann nur von mir ausgehen: Ich könnte ich nicht ohne. Ich finde, im Prinzip müsste man die gesamte Kunstförderung vom Kopf auf die Füße stellen und sagen: Wir fördern das, und wir mischen uns nicht in die Themen und Inhalte ein. Im Prinzip können wir, die wir in der Kunst sind, das selbst. Themen haben wir genug, wir brauchen keine Themenvorgabe vom Land, von der Stadt, vom Bund oder sonst wem. Deshalb fände ich es wichtig und zukunftsfähig – in dieser Stadt, in diesem großen Land – Kunstförderung zu intensivieren und dafür auch wirklich Geld in die Hand zu nehmen.
Eine Stadt braucht Meinungsfreiheit, Offenheit, Kreativität…
…und ein Engagement. Das finde ich auch wichtig. Das Problem, das ich gesellschaftlich sehe, ist, dass viel so ´ne Haltung da ist: „Die müssen irgendwas machen, damit es mir besser geht.“ Die umgekehrte Fragestellung „Was habe ich in der Hand, um mein Umfeld zu gestalten?“ wird eher fallengelassen. Jammern funktioniert immer hervorragend. Es kostet nichts, ist super einfach und bequem. Etwas zu tun, ist dagegen anstrengend. Vielleicht einen Tisch rausstellen, Stühle drumherum, eine Kaffeekanne drauf und sagen: „Wir trinken jetzt hier draußen Kaffee.“ Das sind Dinge, die es früher gab. Das findet immer weniger statt. Es ist dieser Rückzug ins Private. Man klagt, dass die Welt so ist, wie sie ist, dass alle vereinsamen und unglücklich werden – anstatt das Gegenteil zu tun, rauszugehen und ein Angebot zu machen. Das kann jeder.
Am Ende liest jemand mit Macht dieses Interview. Was willst du ihm noch sagen?
Wenn du das mit „Macht“ anteaserst, dann ist die Antwort einfach: Die ist nur geliehen, die ist auf Zeit. Ich hatte mit meinem Kollegen Andy Dino Iussa die Überlegung, vor der Wahl noch eine Veranstaltung hier zu machen – das werden wir aber nicht mehr schaffen. Da wir am Friedhof sind, wäre die Frage gewesen: „Was soll auf deinem Grabstein stehen?“ Im Sinne von: Was willst du hinterlassen jenseits der fünf Jahre, die du im Amt bist und jenseits dieser Schnelllebigkeit? Mit der Idee: Wofür stehst du im Leben? Wenn du darauf eine Antwort hast, ist, glaube ich, alles gut.
