Im Rahmen dieser Serie unterhalte ich mich mit Protagonisten der Freien Szene darüber, was sie bewegt und antreibt. Diesmal ist es Tina Hermann: Die Sopranistin und Gesangspädagogin lebt seit 2010 in Wuppertal und bezeichnet sich selbst als „Schubladen-Hüpfer“. Neben dem klassischen Gesang hat sie andere musikalische Genres, freie Improvisation, eigene Texte und Tanz in ihre Kunst aufgenommen – inspiriert wird sie außerdem von anderen Künstlerinnen und Künstler in Wuppertal, mit denen sie einen engen Austausch pflegt.
Erschienen am 28.08.2025 in der Westdeutschen Zeitung.

Warum macht Du, was Du machst?
Weil ich es machen muss, weil ich so sehr dafür brenne. Das ist mein Motto: die Liebe zur Musik, aber auch die Liebe zu Menschen. Gerade auch, wenn ich unterrichte, liebe ich es, Menschen zu stärken und eine Entwicklung zu begleiten. Und künstlerisch Menschen zu berühren – das ist mir am wichtigsten.
Hast du schon erlebt, dass aus einem Engagement, eine Herzensangelegenheit wurde?
Das kommt öfter vor. Ich mache zum Beispiel Konzerte mit Jens-Peter Enk. Er ist Kirchenmusikdirektor – wir machen aber nicht nur Kirchenmusik. Mir ist wichtig, dass es möglichst niederschwellig ist, dass jeder kommen kann. Ich sage auch: Ihr müsst nicht irgendeinem Reglement folgen oder zu einem bestimmten Zeitpunkt klatschen. Fühlt, was ihr fühlt – wenn ihr weinen müsst, dann weint ihr, und wenn ihr lachen müsst, dann lacht ihr. Wir haben vergangenen November ein Trostkonzert in der Unterbarmer Kirche veranstaltet. Dieses Thema ist mir sehr wichtig, weil ich selbst früh mit dem Tod konfrontiert war. Anderen Menschen einen Raum für Trauer zu geben, finde ich wichtig. Trauer kann vieles sein – man kann weinen und verzweifelt sein, aber sie kann auch eine Leichtigkeit haben.
Sie darf alles haben, was man fühlen kann. Es gibt keine Restriktionen. Die Endlichkeit des Lebens gibt mir manchmal sogar Kraft, weil ich weiß, wie wertvoll das Leben ist. Das versuche ich in meine Stücke einzubringen. Ich habe auch ein Gedicht geschrieben, „Der kleine blaue Vogel“. Zu diesem Zeitpunkt war ich sehr traurig, habe dann aber das Gedicht verfasst und meine Traurigkeit von der Seele geschrieben. Der besagte blaue Vogel ist sehr traurig, entdeckte aber, dass er alles in sich trägt, um fliegen zu lernen und das Nest auch ohne die Eltern verlassen kann.
Das habe ich dann in einem Konzert vorgetragen. Danach kam eine Mutter eines Studenten aus dem inklusiven Studio des Schauspiel Wuppertal, dem STUDIYOU, zu mir und sagte, das Gedicht habe ihr Mut gemacht in Bezug auf ihren Sohn – dass er es schaffen wird, auch wenn die Eltern irgendwann nicht mehr da sind. Das hat mich sehr berührt, auch, dass ein so kleiner Text diese Wirkung haben kann. Ich musste mich sehr überwinden, ihn zu zeigen, aber gerade das ist wichtig: Gedanken nach außen zu tragen, damit jemand anderes gestärkt wird.
Also ist Kunst ein verbindender Raum? Was kann dort entstehen?
Es geht darum, sich zusammengehörig zu fühlen, sich emotional verstanden zu fühlen – gerade dann, wenn man sich wie ein Alien vorkommt. Das ist eine besondere Form der Berührung. In so einem Leidenschaftskonzert zum Beispiel – diese vielfältigen Konzerte bringen das mit sich, dass Leute auf emotionaler Ebene angesprochen werden – da war eine Frau, die gesagt hat, für sie war es plötzlich so, als sie meine Lieder gehört hat, dass sie wie einen Film ihres Lebens sah. Sie hatte früher selbst im Chor gesungen – wie eine Art Plattensammlung ihres Lebens, die plötzlich in ihr hochkam. Sie erinnerte sich daran, wie sehr Musik ihr Leben bereichert hat, und dass sie das wieder machen möchte.
Wir bekommen oft Rückmeldungen oder Nachrichten, dass Menschen berührt wurden. Dieses Emotionale ist mir sehr wichtig – aber auch, dass darüber gesprochen wird.
Erreicht Kunst auch Menschen, die sich selbst nicht als klassisches Kulturpublikum sehen?
Total. Zum Beispiel hat neulich ein Schüler von Arian David Stettler mich beim Üben gehört. Er singt eigentlich nur Rockmusik, aber er hörte mich Klassik singen und sagte danach, wie schön er das fand. Er hat sich vorgenommen, einmal in die Oper zu gehen und zu schauen, wie das ist. Das war für mich wie ein Ritterschlag. Leute, die normalerweise Rock oder ganz andere Musik hören, probieren es aus – und werden berührt. Mir ist diese Nahbarkeit und Authentizität wichtig. Deshalb versuche ich, diese Schwellen abzubauen: „Wann muss ich klatschen?“, „Wie viele Sätze hat die Suite?“ – das soll kein Hindernis sein.
Ein weiteres Beispiel: Ich war bei einem Tanz-Event in Oberbarmen und fuhr mit dem Fahrrad zurück. Vor einem neu eröffneten Laden spielten türkische und arabische Musiker, viele Männer tanzten davor. Ich hielt mit dem Fahrrad an, sah eine Gruppe Frauen, und eine von ihnen nahm Blickkontakt mit mir auf. Ich stieg ab und tanzte mit ihr – einfach auf der Straße. Das ist Musik, das ist Begegnung – und das ist Oberbarmen. Solche spontanen Kontakte passieren öfter und erreichen Menschen, die sonst keinen Zugang hätten. Es gibt viele Berührungspunkte mit sozialen Themen. Das spielt immer mit hinein.
Was ist, wenn die Politik Fördermittel kürzt? Fühlst Du dich dann im Stich gelassen?
Es gibt in mir immer wieder diese Sorge, die ich versuche wegzuschieben. Und manchmal wünsche ich mir mehr Zusammenarbeit, zum Beispiel bei der Diskussion über Hochkultur und Freie Szene. Ich mag den Begriff „Hochkultur“ nicht, obwohl ich manchmal Teil davon bin. Das Wort hat für mich ein Gefälle. Ich finde, man sollte die beiden Bereiche nicht gegeneinander ausspielen. Es geht darum, Wege zu finden, zusammenzuarbeiten und Gelder zu generieren. Ich fand es sehr stark, als Herr Krasnitzer – der ein gewisses Standing hier hat –, beim Treffen der Freien Szene in der Färberei gesagt hat: „Kultur bedeutet, Menschen zu berühren.“ Da dachte ich: Darf man das überhaupt so sagen? Denn es geht sonst immer nur um Zahlen. Aber Kultur hat einen Wert, den man nicht in Zahlen messen kann.
Eine Stadt braucht Meinungsfreiheit, Offenheit, Kreativität…
Zu Kreativität fällt mir ein: Kreativität bedeutet, Probleme zu lösen. Damit beschäftigen wir Künstler uns ständig – und darin sind wir gut. Deshalb können Kunst und Politik auch in Gremien zusammenarbeiten, um neue Lösungen zu finden und anders zu denken. Zum Beispiel während Corona – das war auch eine Krise für die Kunst, weil wir nicht arbeiten durften. Aber alle, die dafür brennen, haben trotzdem weitergemacht. Es sind viele neue Dinge entstanden, auch in mir. Ich habe überlebt, weil ich gewohnt bin, mit Krisen umzugehen – auch mit persönlichen. Dieses Wissen gebe ich gerne an die Gesellschaft weiter, besonders im Unterricht, im Kleinen.
Ist dir noch eine Geschichte eingefallen?
In Weinsberg, meiner Heimat, habe ich über zehn Jahre lang an Weihnachten in der Psychiatrie gesungen. Das war ein soziales Projekt, das mir selbst unglaublich viel zurückgegeben hat. Es war mein Weihnachtsmoment, weil ich gemerkt habe, wie direkt die Menschen berührt wurden. Einmal kam während meines Gesangs jemand nach vorne, nahm meine Hand und stand einfach neben mir. Ich wusste, die Person brauchte das – und dass sie Nähe wollte. Ich bin eine nahbare Person, und das war in Ordnung. Genau deshalb habe ich das immer wieder gemacht: wegen solcher Begegnungen.
Am Ende liest jemand mit Macht dieses Interview. Was willst Du ihm noch sagen?
Es geht dabei auch um Demokratie und darum, Vielfalt zu schützen. Wir sehen überall auf der Welt, dass diese bedroht ist. Populistische Stimmen sind laut – die meisten Menschen, die nicht so denken, sind es leider nicht. Wir sollten unsere Stimme erheben, wenn es um Dinge geht, die uns zutiefst wichtig sind.
