Im Rahmen dieser Serie unterhalte ich mich mit Protagonisten der Freien Szene darüber, was sie bewegt und antreibt. Diesmal sind es Thusnelda Mercy und Pascal Merighi. Die ausgebildeten Tänzer betreiben zusammen seit fünf Jahren die „Tanz Station – Barmer Bahnhof“, eine Spielstätte für Kulturformate, vornehmlich Tanz – in der Kunst sind sie aber ihr Leben lang unterwegs. Das Alltägliche und eine zufällig wahrgenommene Bewegung kann sie inspieren.
Erschienen am 21.08.2025 in der Westdeutschen Zeitung.

Warum macht ihr, was ihr macht?
Thusnelda: Wenn wir es herunterbrechen: Ich glaube fest daran, dass Tanz etwas bewegen kann. Diese Art der Kommunikation, dieses Erleben – oder das Leben mit dieser Ausdrucksmöglichkeit – das kann tatsächlich etwas bewegen. In einem selbst, wenn man es macht, aber auch für andere. Es ist diese nonverbale, internationale Kommunikation, die keine Grenzen kennt. Und diese Hoffnung, die damit verbunden ist – zu sagen, damit können wir etwas bewegen –, das ist der Baustein für das, was wir mit der Tanzstation machen wollen: Möglichkeiten öffnen, mit anderen in Kontakt zu treten, Menschen zu unterstützen, zu motivieren, zu zeigen, dass es verschiedene Perspektiven auf Dinge gibt und nicht nur eine einzige Sichtweise.
Ihr zeigt eure Kunst in der Öffentlichkeit. Wie wichtig ist euch dieser Teil?
Thusnelda: Erst einmal ist es etwas, das so alt ist wie die Menschheit selbst: Straßenkunst. Durch diese Straßenkunst erreicht man Menschen, bewegt sie, triggert sie – auf eine ganz andere Art und Weise. Wir leben dort, wo wir leben – nicht in einem abgeschlossenen Haus, sondern in den Straßen. Wir gehen einkaufen, wir gehen zum Arzt, und diese Begegnung mit den Menschen, ist eine ganz andere Herangehensweise an Kommunikation, an Austausch und an das Miteinandersein. Die Matrix ein wenig zu stören, indem man Farben und Bewegungen an einen Ort bringt – zum Beispiel am Alten Markt. Dort, wo verschiedenste Menschen plötzlich innehalten, aufhören, das zu tun, was sie sonst immer tun. Weil wir ihnen etwas geben: einen Moment des Innehaltens, des Hinschauens, des Reflektierens. Und genau das ist gerade jetzt in unserer Zeit umso wichtiger.
In Zeiten von Polarisierungen und Krisen – ist die Kunst ein verbindender Raum?
Pascal: Ich glaube nicht, dass Kunst per se verbindet. Kunst kann auch ein Raum sein, der trennt. Ein Raum, der Exklusivität zeigt. Kunst ist nicht unbedingt immer verbindend. Nicht mehr als die Wirtschaft – aber auch nicht weniger. Kunst ist, wie die Wirtschaft, wie die Gesundheit, wie die Arbeit ein Teil der Gesellschaft. Es stellt sich für mich nicht die Frage, ob Kunst existieren soll oder nicht. Sie ist Teil davon; deshalb kann man nicht pauschal sagen: Kunst ist verbindend.
Thusnelda: Ich glaube aber, es ist ein bisschen wie mit anderen Dingen: Es kommt immer auf den Menschen an, was er daraus macht. Kunst kann sehr gefährlich sein, sie kann etwas verstecken und dahinter etwas ganz anderes verbergen. Und genau aus diesem Grund verstehe ich auch, was Pascal meint: Es ist nicht automatisch nur gut oder automatisch nur schön. Aber es ist lebenswichtig. Es ist ein lebenswichtiges Element. Stell dir ein Leben ohne Musik, ohne Tanz vor – jeder Mensch war irgendwann mal in einer Disco oder hat zu Hause im Wohnzimmer getanzt. Tanz ist – bewusst oder unbewusst – ein Teil des Menschen.
Wann habt ihr gemerkt, dass eure Kunst Menschen erreicht?
Thusnelda: Wir hatten viele intensive Begegnungen – zum Beispiel bei einem Soundwalk, den wir seit ein paar Jahren machen, von der Alarichstraße bis hier zur Tanz Station. Dort haben wir Tänzerinnen choreografisch auf eine Verkehrsinsel gestellt. Wir achten sehr darauf, unsere Tänzerinnen und Tänzer zu schützen, wenn wir in öffentlichen Räumen arbeiten, denn: Tanz kann provozieren. Es gab eine Gruppe von fünf, sechs Jugendlichen, die ziemlich aggressiv und provokant reagierten. Wir mussten entscheiden: Schimpfen wir jetzt – oder versuchen wir etwas anderes? Wir haben einfach mit ihnen gesprochen und gesagt: „Schaut mal, ihr könnt auch mittanzen.“ Und sie sagten: „Ja, können wir?“ Plötzlich haben wir sie mitgenommen, ihnen die Möglichkeit gegeben, sich nicht ausgegrenzt zu fühlen, nicht dagegen sein zu müssen, sondern etwas anderes auszuprobieren. Am Ende tanzten wir alle zusammen traditionelle Tänze und zogen die Straße hinauf.
Was ist, wenn die Politik Fördermittel kürzt? Fühlt ihr euch dann im Stich gelassen?
Thusnelda: Es war nie so, dass Kunst der Beruf war, mit dem man reich wird. Es ist schwierig zu sagen: „Die lassen uns im Stich.“ Es gibt immer ein „bigger picture“. Die Politik muss mit dem Geld haushalten, das sie hat. Wir haben das Glück, dass wir von Anfang an von der Stadt mit sehr viel positiver Energie unterstützt wurden – davon profitieren wir. Für uns ist wichtig, dass es ein Gefühl von Rotation gibt: Take and Give. Wenn das nicht wahrgenommen oder nicht unterstützt wird, dann fühlen wir uns im Stich gelassen. Natürlich bräuchte es viel mehr. Es ist viel zu wenig Geld, um das zu machen, was wir machen sollten, wollten, könnten. Oder man entscheidet sich, stark zu bleiben, für etwas zu kämpfen – dafür, dass es nicht schlimmer wird, sondern hoffentlich besser. Aber zumindest, dass es bleibt.
Pascal: Natürlich gibt es Kunstsparten, die weniger Publikum erreichen. Das liegt in ihrer Natur. Andere Sparten ziehen mehr Publikum an – das ist auch gut so. Problematisch wird es, wenn man versucht, alles in eine Box zu packen und ein einziges Format zu erfinden. Die Gesellschaften sind zu unterschiedlich, die Arbeitsweisen und Sparten auch. Und genau diese Vielfalt ist wichtig und wertvoll.
Was passiert, wenn dieser Bereich wegfällt? In Zeiten, der aufkommenden Rechtsrucks? Was kann Kunst dagegen tun?
Thusnelda: Ganz verschwinden wird Kunst nie – irgendeine Form wird es immer geben. Die Frage ist, wie Kunst instrumentalisiert wird: Welche Aussagen stehen dahinter? Welche Botschaften werden versteckt? Für die Freie Szene, für diejenigen, die ihre Stimme erheben, Vielfalt verteidigen und den Dialog suchen, wird es gefährlich. Trotzdem habe ich in mir die Hoffnung, dass wir es in Deutschland nicht so weit kommen lassen. Viele Menschen sind gerade aus Verzweiflung dort gelandet, weil sie nicht wissen, wohin. Genau da kann Kunst ein Rettungsboot sein. Wir leben in einer Welt, die sich in den letzten Jahren sehr explosiv verhalten hat, die sehr nach außen geschaut hat. Jetzt aber orientiert sich vieles wieder zurück – und das ist perfektes Futter für Parteien wie die AfD oder rechtsextreme Einstellungen. Eine Lösung habe ich heute nicht parat – außer das zu tun, was wir ohnehin machen: weitermachen, raus auf die Straße gehen, keine Angst vor Konfrontation haben.
In eurer Kunst steckt Haltung? Wie bewusst ist euch der politische Aspekt?
Thusnelda: Wir sind uns sehr bewusst, was wir tun, mit wem wir arbeiten, welche Menschen Teil unseres Teams sind, aus welchen Ländern sie kommen, welche Einstellungen sie haben. Ganz am Anfang des Ukraine-Kriegs hatten wir einen Workshop mit russischen und ukrainischen Teilnehmern. Da standen wir im Kreis – eine russische Tänzerin, zwei ukrainische Studentinnen – und alle stellten sich vor. Das war ein emotionaler Moment – da war Kunst sofort politisch, ohne dass wir bewusst etwas tun mussten. Weil wir versuchen, Menschen zusammenzubringen. Das ist unsere Haltung: Wir stehen für Vielfalt, für Buntheit. Und das ist politisch. Natürlich gehen wir auch auf Demos oder unterstützen eine politische Farbe mehr als die andere. Aber stärker noch als mit Worten zeigen wir unsere Haltung durch unsere Aktionen und durch das, was wir sind.
Am Ende liest jemand mit Macht dieses Interview. Was würdet ihr ihm noch sagen?
Thusnelda: Ehrlicher und aktiver an der Kunst- und Kulturszene in Wuppertal teilzunehmen. Nicht nur darüber reden oder eine Förderliste im Schrank haben. Es gibt immer einen Moment, in dem man sich Zeit nehmen kann, um zu verstehen, wer die Menschen sind, die diese Stadt mitgestalten.
Pascal: Ich weiß nicht, ob Politikerinnen und Politiker wirklich spüren, was Kunst bewirkt. Als Politikerin ist dein Job: Du musst das Panorama kennen. Es reicht nicht, nur in die Philharmonie oder nur zu Pina Bausch zu gehen. Wenn du eine Führungsposition hast, musst du alles spüren. Denn ohne eigenes Erleben kannst du keine Entscheidungen treffen.
